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Wie reagiert ein Mensch in bestimmten Lebenssituationen?
Dieser Text ist ein Auszug aus seinem Buch Anatomie Angst, von Egon Fabian, Dr. med., Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker und Lehranalytiker, ist Chefarzt der Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige in München. Das Buch erscheint Anfang März 2010 im Verlag Klett-Cotta, Stuttgart erscheint.
Angst.
Wir alle kennen dieses Gefühl. Auch wenn es uns oftmals nicht bewusst ist. Denn nicht immer zeigt es sich offen, sondern verbirgt sich hinter psychosomatischen Symptomen, Aggressionen, depressiven Verstimmungen oder Arbeitswut. Wir entwickeln Abwehrstrategien gegen die Angst – weil wir Angst vor ihr haben. Doch existenzielle Angst ist ein Urgefühl menschlichen Daseins. Sie lässt sich nicht besiegen, sondern muss verstanden und ins Leben integriert werden.
Ein Leben ohne Angst? Laut Experten gibt es das gar nicht.
Jedes Zeitalter hat seine Ängste. Früher bedrohten Krankheiten, Seuchen, Kriege und Armut die Menschen. Heute hängen unsere Ängste stark mit den Bedrohungen unserer Zeit, mit der Schwächung oder dem Untergang traditioneller Strukturen, den rapiden Veränderungen der Technologie und ihren Gefahren, mit der Verunsicherung unserer Identität zusammen. Der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Raymond Battegay schreibt dazu: "Die Angst hat die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. Sie scheint aber noch nie so dominant wie heute gewesen zu sein. Der moderne Mensch, obschon er kaum einen Ort findet, an dem er für sich selbst sein kann, fühlt sich zutiefst vereinsamt. Allein steht er oft seinen Lebensaufgaben gegenüber. Angst bemächtigt sich deshalb seiner."
Neu ist auch: Wir sind zum ersten Mal in der Geschichte für unsere Ängste selbst verantwortlich, wir haben sie größtenteils selbst heraufbeschworen. Es sind Bedrohungen von Menschenhand, die unsere existenziellen Ängste schüren. Der frühere Mensch fürchtete sich vor Blitz und Donner, vor der Pest; er brachte diese "Strafen" in Verbindung mit seinen Sünden und suchte Gnade und Vergebung bei den Göttern, die es zu beschwichtigen galt.
Jeder konnte sein Leben tugendhafter gestalten, seinen Glauben stärken. In unserem Zeitalter sind dieser Glaube und die damit verbundene Hoffnung nicht mehr Teil unserer Welt. Und damit fehlen uns die Mechanismen, die früher die Angst linderten und Hoffnung schafften: die Religion, der Glaube, die menschliche Gemeinschaft, das Leben in großen Gruppen. Der moderne Mensch bleibt angesichts seiner Ängste allein.
Die Populärwissenschaft, unterstützt von manchen Fachleuten, hat eine wahre Flut von Ratgebern hervorgebracht, welche die Angst als ein fast überflüssiges Übel bagatellisieren und "wirksame" Wege für ihre Bekämpfung versprechen, um die "Ängste besiegen" und "Endlich frei von Angst und Panik" oder "Frei von Angst – ein Leben lang" sein zu können. Im Internet wird geworben: "Man braucht im Leben nichts zu fürchten", "Angstfrei leben".
Es ist nicht nur ethisch bedenklich, sondern auch nicht ungefährlich, wenn vor allem Fachleute die Angst und ihre Zunahme zum "besiegbaren" Symptom verharmlosen und diesen Sieg mit verschiedenen Trainings und dergleichen erreichen wollen; sie verheißen ein Leben ohne Angst, so wie sie die Hoffnung und Illusion nähren, der Mensch könnte eines Tages ohne Schmerz und ohne zu altern existieren.
Angst ist als existenzielle Angst ein Urgefühl menschlichen Daseins.
Es wird nie ein Leben ohne Angst geben. Die Menschen unterscheiden sich weniger dadurch, ob sie Angst haben; sie unterscheiden sich in der Art, wie sie gelernt haben, die Angst auszudrücken. Und sie unterscheiden sich wesentlich in der Art, wie sie mit der Angst umgehen, das heißt, ob sie die eigene Angst vor der Angst zulassen oder abwehren, verdrängen oder sich mit ihr konfrontieren. Die Strategien, die ein Mensch gegen die Angst entwickelt, spielen eine zentrale Rolle – möglicherweise die wichtigste überhaupt – in der Gestaltung der Persönlichkeit. Angstabwehrstrategien treten selten in Reinform auf. Neben der Verdrängung, dem Nicht-wahrhaben-Wollen der Angst, gibt es noch weitere Abwehr- und Bewältigungsformen:
Aktionismus
Aktionismus ist vielleicht die am meisten verbreitete – und auch gesellschaftlich sanktionierte – Art, mit Angst umzugehen. Ein gewisser Aktionismus wird in unserer Gesellschaft oft als Leistung missverstanden und honoriert. "Immer besser, immer schneller, immer leistungsfähiger" ist die Devise, die nicht nur das Konsumverhalten, sondern auch das Verhalten im Allgemeinen bestimmt. Viele Menschen leben in einer ruhelosen Suche nach Aktion und vermeiden jede Form von Stille. Fieberhafter Aktionismus greift um sich, Tausende müssen surfen, gleiten, rennen, fliegen, suchen nach "Fun" und Geschwindigkeit.
Auch der stets aktive, fleißige, oft auch innovative "Workaholic" täuscht nicht selten darüber hinweg, dass er unter seiner produktiven Unruhe Angst und Leeregefühl verbirgt. Das wird erst dann sichtbar, wenn er seiner Arbeit, seiner vielfältigen Tätigkeiten beraubt wird. Dann wird er ängstlich, aggressiv wie ein Süchtiger, dem der Stoff ausgegangen ist.
Hyperaktivität
Hyperaktivität ist eine häufige Abwehrform der Angst bei Kindern und Jugendlichen, die sich als Unruhe, exzessive Ruhelosigkeit und beeinträchtigte Aufmerksamkeit äußern und zu Lernschwierigkeiten oder anderen schulischen Problemen führen kann. Sie kommt auch bei Erwachsenen oft vor und stellt eine zugespitzte, "pathologische" Variante des Aktionismus dar; hier ist, im Gegensatz zum vielfach täuschenden Aktionismus, die Angst, die Unruhe gleichsam direkt unter der Oberfläche. Nach der biologistischen Psychiatrie und ihrer Forschungsrichtung ist diese Form der Angstbewältigung (das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsyndrom, ADHS) auf eine Störung des dopaminergen Systems zurückzuführen und zeigt eine hohe Erblichkeit.
Dabei wird jedoch ignoriert, dass es sich um Jugendliche handelt, deren Störungen als Unfähigkeit aufzufassen sind, Angst und Aggression in einer sie nicht verstehenden und nicht unterstützenden Umgebung auszudrücken. Erst durch den "Alarmruf" der Hyperaktivität, die im Gegensatz zur Angst beachtet wird, weil sie die schulischen Leistungen gefährdet, wird die Umgebung auf den Jugendlichen oder das Kind aufmerksam. Die angeblich "hohe Erblichkeit" wird durchaus verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Eltern, die ihre Ängste auch durch Hyperaktivität ausdrücken, ihre Kinder zu ähnlichem Verhalten anregen: erstens, weil sie deren Angst – wie die eigene – gar nicht verstehen, und zweitens, weil sie als Identifikationsfiguren dienen.
Streben nach Macht
Macht ist, neben Besitz und Geld, am besten geeignet, innere Leere zu füllen; sie ist mit sozialem Prestige verbunden, schafft große materielle und psychologische Vorteile. Diktatoren und Mächtige aller Zeiten liefern Beispiele dafür, wie das Streben nach Macht die Angst betäuben kann. Die strenge Hierarchie in der Diktatur ermöglicht das Projizieren der eigenen Angst auf den Despoten, in Form einer Furcht vor ihm, deren Ausmaße der abgewehrten zugrundeliegenden inneren Angst entsprechen.
Dieselbe innere Angst wird aber auch auf die Opfer der Macht und der Unterdrückung abgewälzt; Menschen mit nicht gespürter, defizitärer Angst müssen förmlich andere in Angst halten, Terror verbreiten, damit sie ihre Angst abwehren können. Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat in seinem Buch Der Fremde in uns die Biografien von Hitler, Göring, Frank und anderen unter dem Aspekt der Unterdrückung des "Fremden", das heißt des nicht zugelassenen eigenen Leides, wozu insbesondere die frühe Angst gehört, ausführlich analysiert.
Besitzsucht
Streben nach Besitz gehört in die unmittelbare Nähe des Strebens nach Macht. Diese Art der Angstabwehr wird nicht nur sozial gebilligt, sondern auch stark gefördert, denn sie stellt die Hauptachse unserer Marktwirtschaft dar, die auf Kaufen, Verkaufen und Profit aufgebaut ist. Darin scheint die Erklärung der Tatsache zu liegen, dass es dem Menschen bisher nie gelungen ist, ein anderes lebensfähiges Wirtschaftssystem zu kreieren. Je größer die existenzielle, nicht gespürte Angst, desto größer das Bedürfnis nach Sicherheit. Und die größte "Sicherheit" versprechen der Besitz und das Geld; gleichzeitig aber schwingt die Befürchtung mit, all das zu verlieren.
Übermäßiges Rivalisieren
Rivalität hat mehrere Aspekte, die einander potenzieren können: Spiel, Neid, Eifersucht, Aggression, kämpferischer Kontaktversuch, Erotik, Machthunger spielen darin eine Rolle. Aber es liegt nahe, den Hauptgrund für zwanghaftes, übermäßiges Rivalisieren in der Angstabwehr zu suchen. Abgewehrt wird damit die narzisstische Angst vor Bedeutungslosigkeit, vor mangelndem Sinn im eigenen Leben. Je unkontrollierter, unwiderstehlicher das Rivalisieren ist, umso mehr stellt es eine Abwehrstrategie gegen unbewusste existenzielle Ängste dar.
Gewohnheiten
Gewohnheiten sind die "gesündeste", harmloseste Form der Angstabwehr. Sie vermitteln uns Sicherheit. Wir wissen, woran wir sind und wie es weitergeht. Wir pflegen, ohne es zu wissen, Hunderte von Gewohnheiten, die uns den Alltag füllen und regeln, ihre Bedeutung ahnen wir nicht, wenn wir uns mit ihnen nicht beschäftigen. Auch ein "gesunder Mensch" ist auf seine Bewältigungsstrategien gegen die Angst angewiesen. Harmlos sind sie so lange, wie sie ihn nicht in ihrer Intensität und Unverrückbarkeit dominieren. Ihre kontaktdosierende Wirkung dient der Stabilität und Geborgenheit durch Regulation von Nähe und Distanz.
Paul Groussac, ein französischer Schriftsteller, formulierte es 1904 zutreffend: "Ohne Zweifel: Das Heim, die Familie, die bekannten geliebten Gesichter, die Arbeit, die regelmäßige Abfolge gewohnter Tätigkeiten müssen allesamt Marksteine und Anhaltspunkte sein, die den gefährdeten Verstand im Gleichgewicht halten. Sie geleiten ihn durch das Labyrinth der Klippen, an denen er scheitern könnte: nach Art der antiken Schifffahrt, die sich vorsichtig von Kap zu Kap bewegte und sich furchtsam an der stets sichtbaren Küste orientierte." Erotisieren und Sexualisieren
Zu den Abwehrmechanismen, die existenzielle Angst maskieren und kompensieren, gehört auch die Flucht in sexualisierte Beziehungen und in sexuelle Hyperaktivität. Erotisieren und Sexualisieren haben wenig mit echter, in die Persönlichkeit integrierter Erotik und Sexualität zu tun, sie zeigen vielmehr Abwehrcharakter und hinterlassen ein Gefühl der Leere. Erotisieren heißt der meist unbewusste Vorgang, im Laufe dessen Erotik als Mittel, als "Waffe" eingesetzt wird. Bereits früh wurde erkannt, dass Verliebtheit auch als Abwehr gegen Angst (und Schuldgefühle) wirksam sein kann: "Angst und Schuldgefühle können indirekt herabgesetzt werden, indem man sich verliebt", schreibt der Psychoanalytiker Otto Fenichel. Diese Abwehrstrategie der Angst kommt besonders vor angstmachenden Identitätsschritten oder Grenzsituationen vor. Es entstehen dabei Paarbildungen, die ausschließlich auf der angstlindernden Wirkung der engen, symbiotischen Beziehung basieren und mit dem realen Kennen des anderen und der Beziehungsarbeit, die damit verbunden ist, nichts zu tun haben. Die dramatischen Folgen solcher Partnerschaften lassen sich an der hohen Zahl der Trennungen und Scheidungen ablesen. Auch sexuelle Promiskuität kann Angst wirksam binden oder "betäuben".
Sucht
Sucht ist eine der häufigsten Bewältigungsformen der Angst; Alkohol, Drogen und andere Suchtmittel unterdrücken die Symptome von Angst und innerer Leere bei depressiven, psychotischen und Borderlinepatienten und fungieren für sie als "narzisstische Plombe". Man gewinnt einen klaren Eindruck von der Angst, die die Sucht "bindet", wenn man das Suchtmittel entzieht, wenn man dem Patienten beispielsweise den Alkohol oder die Droge wegnimmt und er in Entzug gerät: Dann steigert sich die Angst zur panikartigen Todesangst, die Körper und Seele erfasst und den Menschen zu einer elenden, abhängigen Gestalt "degradiert".
Zwang
Zwang wird nicht nur häufig von Angst begleitet, er ist vielmehr eine Abwehrform der Angst, ein Fluchtversuch vor einer unerträglichen Angst, die durch das Zwangsobjekt abgewehrt und teilweise erleichtert werden kann. Die Angst wird hier konkretisiert, in Handlungen (Zwangshandlungen) oder Rituale oder Zwangsgedanken oder aber in übermäßige Ordnung und Disziplin umgewandelt. Ein zwanghafter Mensch strebt Sicherheit auf süchtige Weise an, er klammert sich an jedes feste Objekt, jedes Detail oder jede Gewohnheit. Gelingt ihm das nicht, dringt die ursprüngliche Angst heftig durch. Psychosomatik
Psychosomatische Krankheiten und Symptome wehren Angst auf einer tiefen, archaisch-körperlichen Ebene ab. Gleichzeitig sind sie Teil der charakteristischen körperlich-seelischen Manifestation der Angst – so wie sie auch andere Gefühle wie Aggression oder Traurigkeit ausdrücken und gleichzeitig abwehren können. Die unter der Psychosomatik verborgenen Gefühle bleiben vom Bewusstsein abgespalten und wirken als interpersonelle Kontaktbarriere; damit spiegeln sie die Kontaktlosigkeit und die Abwehr der Gefühle in ihrer frühen Umgebung wider.
Besonders Aggression und Angst sind in der Gegenübertragung bei solchen Patienten spürbar; je schwerer die Psychosomatik, desto mehr strahlt sie die Gefühle aus, die darin verpackt sind – bis ein Teufelskreis entsteht: Die Erkrankung wehrt die Angst ab, verursacht aber auch Todesangst, die ihrerseits wiederum durch die Beschäftigung mit der Krankheit abgewehrt wird. Die Verknüpfung von Angst und Aggression in der Psychosomatik führt häufig dazu, dass auch Psychotherapeuten die Bedeutung der Angst hinter der Aggression nicht erkennen. Die Angst vor der Angst hat uns fest im Griff. Alle Bewältigungs- und Abwehrformen der Angst können als Strategien verstanden werden, die uns die Angst vor der Angst, die Begegnung mit unserem inneren Kern ersparen sollen.
Die Angst vor der Angst ist nicht die Angst vor dem Tod,
sondern die Angst, die uns davor abhält, dieser Angst ins Auge zu schauen. Sie ist auch nicht die Angst vor der Einmaligkeit unseres Lebens, sondern die Angst davor, diese Tatsache als solche – mit der dazugehörigen Angst – anzuerkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen, die unser Leben anders gestalten können. Für die Therapie von Angststörungen ist eine Reihe von Prinzipien wesentlich: Es ist eine Illusion, die existenzielle Angst behandeln zu wollen. Was wir behandeln können, ist die Angst vor der Angst.
Der Therapeut muss dafür besondere Fähigkeiten und Kompetenzen besitzen, insbesondere seine eigenen Angstmanifestations- und -abwehrformen gut kennen. Eine Therapie ist dann erfolgreich, wenn der Mensch weniger Angst vor seiner Angst hat, seine Grundangst und ihr individuelles "Schicksal" begriffen hat und bereit ist, sie anzunehmen und an ihr zu wachsen. Angst und Einsamkeit bedingen sich gegenseitig. Die Möglichkeit der Verbündung mit seinen Mitmenschen wohnt dem Menschen inne, er kann darauf in seiner Angst zurückgreifen. Der "archaische Weg" für den angstgeplagten Menschen bedeutet den Austritt aus seiner gruppendynamisch und kulturell bedingten Einsamkeit und den Schritt zur Solidarisierung.
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I-F-O Redaktion
Herbert Olbrich
März 2010 |